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Martina Wilsher-Just gibt stets vollen Einsatz für ihre Patienten. FOTO ZVG

Zwischen Babyfotos und Todesanzeigen

Was macht man mit 23 Jahren? Studieren? Auf Reisen gehen? Sich für einen neuen Job bewerben? Martina Wilsher-Just hat sich selbstständig gemacht. Dabei musste sie sich teils grossen Vorurteilen stellen. Die bald 31-Jährige ist Chinesische Heilmedizinerin und bietet in ihrer Praxis in Chur Akupunktur, Medizinische Massagen, Schröpfen und Kräuterrezepturen an. «Wenn ich früher erwähnt habe, was ich arbeite, dann erhielt ich oft die Reaktion mit diesem bestimmten Unterton ‘Aha, du tuasch nödala’ und die Leute stellten sich vor, wie ich in meinem Zuhause Patienten empfing und etwas Hokuspokus betrieb», erklärt die Churerin halb lachend, halb nachdenklich. Ihre Praxis mitten in Chur besteht aus einem Wartezimmer und zwei Behandlungszimmern und strömt stets eine grosse Ruhe aus. Die Zeiten, in denen sie im Keller ihrer Eltern Freunde empfing und ihr gelerntes Wissen anwendete, gehören längst der Vergangenheit an. Nichts da von dubiosem Hinterzimmer oder einer Behandlung auf dem heimischen Sofa. Und als Kantonsschüler und Martinas ehemalige Schulfreunde in der Churer Badi Sand ihre Texte, Formeln und Wörter für ihre Ausbildungen büffelten, sass sie auf ihrem Badetuch und lernte fleissig Kräuterrezepturen auswendig.

«Die richtige Zusammenstellung von Kräutern entfaltet die gleiche Wirkung wie klassische Medikamente», erklärt Martina und nippt an ihrem Tee. Gegen Schulmedizin hat die Chinesische Heilmedizinerin nichts einzuwenden. Genauso wie Ärzte ihr teils Patienten überweisen würden, tue sie es auch, wenn sie sehe, dass es die Schulmedizin für die Heilung einer Erkrankung braucht. Als Kind musste sie jedoch selbst negative Erfahrungen mit der klassischen Heilkunde machen und wusste seither, dass sie es anders angehen möchte. Ihre ganze Familie hatte sie damals bei der Suche nach einer passenden Ausbildung unterstützt – auch wenn sonst alle Frauen in ihrer Familie (von der Mutter bis zu ihren beiden Schwestern) ihre Berufung als Lehrerinnen gefunden haben. Martina wurde schliesslich fündig und mit Hilfe ihrer Eltern konnte sie die doch eher kostspielige Ausbildung in Angriff nehmen. «Ich wollte Studium und Beruf in einem 100-Prozent-Pensum ausüben. Wenn ich etwas mache, dann richtig», betont sie und lacht. Die Frage der Selbständigkeit erledigte sich dabei automatisch. Als Martina ihren Abschluss in der Tasche hatte, gab es eigentlich kaum eine Möglichkeit sich anstellen zu lassen. So blieb nur die Selbständigkeit und sie mietete sich zunächst in eine andere Praxis ein.

Den Schritt in die Selbständigkeit hat sie dabei nie bereut. Ihr ganzes Umfeld habe sie stets unterstützt – sei es mit Zuspruch oder beim Anlegen einer Website. 2016 wagt Martina schliesslich einen weiteren Schritt und eröffnet ihre eigene Praxis ohne weitere Mieter. Das Geschäft brummt. Knapp zwei Jahre nach der Eröffnung am neuen Standort nimmt sie sich allerdings eine zweimonatige Auszeit und geht auf Reisen und zieht damit – auch für sie – überraschend die Handbremse. Als sie von ihren Ferien nach Hause kommt, darf sie sich zusammen mit ihrem Partner über Nachwuchs freuen. Martina ist schwanger und weiss, dass sich nun einiges verändert.

Wenn heute beispielsweise Patienten mit Kinderwunsch oder einem Schlaganfall an ihre Türe klopfen, kann sie zwar nicht mehr alle annehmen, aber sucht für sie einen passenden Therapieplatz. «Ich weiss, dass ich so vielen Menschen helfen könnte, aber mein Pensum jetzt als Mutter ist auf zwei bis maximal drei Tage begrenzt», erklärt sie etwas wehmütig und fügt sogleich hinzu: «Es ist nicht möglich, dem Muttersein und dem Job zu gleichen Teilen gerecht zu werden, aber das muss ich auch nicht.» Wenn sie in der Praxis sei, dann gebe sie alles und zu Hause geniesse sie ihre kleine Tochter. «Ich liebe die Freiheit und die Unabhängigkeit, so zu therapieren, wie ich dies möchte. Ich will nicht Menschen wie am Fliessband behandeln, um mehr Patienten reinzubekommen. Deshalb dauert bei mir eine Therapie auch nicht immer nur eine Stunde, sondern vielleicht auch mal anderthalb.»

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Martina schätzt es, dass sie nach ihrer eigenen Philosophie arbeiten kann. FOTO ZVG

Mit der Arbeit am Fliessband kennt sich Martina jedoch auch aus. Bei ihrem viermonatigen Praktikum in China wurde sie leider etwas enttäuscht. Anstelle einer Ausbildung bei einem Alt-Meister der Chinesischen Heilmedizin, arbeitete sie in einem Spital, welches die Patienten teils direkt auf den Stühlen im Wartebereich mit Akupunktur behandelte oder 20 Personen gleichzeitig in einem Raum auf Liegen verteilt waren, welche definitiv nicht unserem Hygiene-Anspruch gerecht werden. Etwas Gutes hatte es dennoch, wie sich die bald 31-Jährige zurückerinnert. So schnell und gut hätte sie sonst nirgends die Techniken der Akupunktur gelernt. Ausgelernt hat Martina aber noch lange nicht, wie selbst erklärt. Auch wenn sie sich bemühe, zu den Schicksalen ihrer Kunden eine gewisse Distanz zu wahren, gelinge ihr dies nicht immer. So nehme es sie natürlich mit, wenn sie wisse, dass sie einen Krebspatienten zum letzten Mal sehe und wisse, dass er nun sterben werde. Und dann stelle sich sie zwangsläufig die Frage, ob sie noch mehr hätte tun können. Ob mehr Wissen hätte helfen können.

 

Freud und Leid liegen aber bekanntlich nahe beieinander und so darf sich Martina auch oft über Geburtsanzeigen von Patientinnen freuen, die teils jahrelang versucht hatten, schwanger zu werden und es mit ihrer Hilfe geschafft haben. «Der Mann einer Patientin hatte mich nach einem positiven Schwangerschaftstest vor lauter Freude auch gleich umarmt und gesagt ‘Wir haben es geschafft’», so Martina lachend und nachdenklich zugleich. Man sieht es ihr regelrecht an – sie würde so gerne noch viel häufiger helfen, aber sie geniesst auch ihre neue Rolle als Mutter und weiss, dass sie in ein paar Jahren wieder häufiger in ihrer eigenen Praxis anzutreffen sein wird. «Ich nehme alles wie es kommt», betont sie zum Schluss und trinkt ihren Tee aus.

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